Von den vielen großartigen Filmregisseuren, die ihre Karriere in der Stummfilmzeit begonnen haben, scheint Ozu Yasujirô heute der modernste zu sein. Sein Einfühlungsvermögen und sein an der Oberfläche so klarer und gelassener Stil sind zutiefst widersprüchlich – genau aus diesem Grund fühlen sie sich so vertraut an. Das Filmmuseum widmet Ozu im Jänner eine Retrospektive.
Ozu wurde sowohl als kulturell Konservativer, der einen traditionellen japanischen Schönheitssinn ausdrückte, bezeichnet, als auch als Formalist, dessen Arbeiten auf Variationen der sich ständig wiederholenden Schemata untersucht werden sollten. Die profundeste Annäherung an die Arbeit des Regisseurs ist jene von Yoshida Kiju, Regisseur von Eros Plus Massacre (1969) und anderen Meilensteinen der japanischen Avantgarde. Yoshida widmete ein brillantes Buch der Behauptung, dass Ozu sein Leben damit verbrachte, „Anti-Kino“ zu entwickeln, weil er Filme machte, die die Grenzen des Mediums aufzeigten und seine kommerziellen Zwecke unterminierten, und weil er scheinbar gewöhnliche Stoffe in „grenzenlose Mysterien“ verwandelte. Um sich eingehend mit dieser Materie befassen zu können, ist es notwendig, so viele von Ozus Filmen wie möglich zu sehen, die Verbindungen zwischen ihnen herauszufinden, den Regisseur dabei zu beobachten, wie er sich wiederholt, sich von sich selbst differenziert und wie er an die Grenzen dessen stößt, womit sich das Publikum zufrieden gibt.
Ozus dynamische, großartige Stummfilme, die von Hollywood-Komödien und Gangsterfilmen beeinflusst wurden, lassen die populärkulturelle Basis seiner Kunst erkennen. In seinen frühesten noch erhaltenen Filmen – Komödien über das Leben von Studenten – experimentiert er mit neuen Möglichkeiten, Veränderung und Übergänge im Film darzustellen.Wakiki hi (Days of Youth, 1929), der von der Abnabelung der Jugend von zuhause handelt, entstand, als Ozu 25 war. Rakudai wa shita keredo (I Failed But…, 1930) und Seishun no yume imaizuko (Where Are the Dreams of Youth?, 1932) zeigen die gleiche Entwicklung vom fröhlichen Studenten-Zusammenhalt hin zu der nüchternen Erkenntnis, dass Trennung und Abschied unumgänglich sind.
Ozus Filme über das lokale Leben weisen sowohl eine größer werdende Freiheit bezüglich des Erzähltempos als auch einen wachsenden Sinn für Desillusionierung auf. Ein Film von tiefster Zärtlichkeit, Tôkyô no kôrasu (Tokyo Chorus, 1931), hat eine erstaunliche Komplexität ineinander greifender Handlungen: Kinder spielen, der Vater zieht sich für die Arbeit an. Hijosen no onna (Dragnet Girl, 1933), geometrisch konzipiert, ergeht sich in Bewegungsstudien und Objektsammlungen (drei Kleindarsteller gehen an der Kamera vorbei und spielen mit Jo-Jos, die Kamera vollzieht eine Kreisbewegung rund um eine Teekanne auf dem Tisch). Ein Höhepunkt seiner Stummfilmarbeit, Umarete wa mita keredo (I Was Born, But…, 1932), ist eine Meisterleistung der Kinderstars Kozo Tokkan und Sugawara Hideo. Sie spielen zwei Brüder, die in eine neue Nachbarschaft ziehen, in der sie es schaffen, ihresgleichen zu dominieren, aber völlig aus der Bahn gerissen werden, als sie mitansehen müssen, wie sich ihr Vater zum Narren macht, um das Wohlwollen seines Chefs zu erlangen.
Nach Ozus Wechsel zum Tonfilm im Jahr 1936 wird sein Stil zunehmend freier. Ein viel diskutiertes Charakteristikum seines Stils ist die Interpunktion der Geschichten durch Fokuswechsel in Einstellungen von leeren Korridoren, Zügen, Straßen, Häusern und Gegenständen. Manchmal kreieren diese Einstellungen eine Verbindung zwischen den Szenen, öfter aber trennen sie die Szenen und erinnern den Zuschauer an die Unzugänglichkeit des kinematografischen Bildes und die Unerbittlichkeit des Laufs der Zeit. Ozus Erzählstil, charakterisiert durch eine beabsichtigte Unbeständigkeit in Geschwindigkeit und einen Schwerpunkt auf Verzögerungen und Auslassungen, deutet an, dass die Menschen im Lauf ihres Lebens dessen Sinn nie wirklich begreifen. Alles im menschlichen Leben (wie Yoshida Kiju in seinem Buch schreibt) passiert zu spät, in der gleichen Weise, wie eine geschiedene Frau in Ochazuke no aji (The Flavor of Green Tea Over Rice,1952) zu spät zu ihrem Haus zurückkehrt, oder der jüngste Sohn in Tôkyô monogatari (Tokyo Story, 1953) zu spät an das Totenbett seiner Mutter kommt.
Banshun (Late Spring, 1949) ist eine der großen Romanzen des Kinos, eine Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter. Das Drama entwickelt sich aus den Bemühungen des Vaters – ein Witwer mittleren Alters, gespielt von Ryu Chishu – seine ihm ergebene Tochter zu vermählen. Diese wird von Hara Setsukogespielt, deren grandiose Schauspielleistung der Kern des Films ist. Strahlend in der ersten Hälfte des Films, verbringt sie die meiste Zeit der zweiten Hälfte halb zusammengekauert und abgewandt von den anderen Charakteren, wirft ihnen grollende oder verletzte Blicke zu oder läuft vor ihnen davon. Mit dem Schlusssatz, dem letzten verzweifelten Versuch der Tochter, an dem einzigen Glück festzuhalten, an das sie glaubt („Bitte, Vater, warum können wir nicht so bleiben, wie wir sind?“), wird Banshun zutiefst erschütternd. Ozu ist kompromisslos in der Beharrlichkeit, dass die unvermeidbare Trennung von Vater und Tochter für beide eine Tragödie ist.
In Bakushû (Early Summer, 1951) spielt Hara Setsuko ein weiteres Mal eine unverheiratete Frau, diesmal aber ist Ryu ihr Bruder, nicht ihr Vater, und der Fokus verlagert sich von der Beziehung zwischen zwei Menschen hin zum Netzwerk von Beziehungen, das von einer Großfamilie und ihren Kollegen und Nachbarn geformt wird. Bakushû ist Ozus Hauptaussage über Glück und wie sehr es zulässig ist, sich danach zu sehnen. Hier steht er der Einschränkung der Möglichkeit menschlichen Handelns sehr kritisch gegenüber, ebenso wie in dem herzzerreißenden Tôkyô monogatari (der für gewöhnlich als sein Meisterwerk gilt), im herausragenden Soshun (Early Spring, 1956), der einen düsteren Blick auf das Büroleben und das häusliche Leben wirft, und in Tôkyôboshoku (Tokyo Twilight, 1957), einem düsteren Melodram, in dem es um Untreue, Abtreibung und Selbstmord geht. Die Charaktere dieser Filme erscheinen zunehmend isoliert, ihre Einsamkeit spiegelt sich in den Orten, an denen sie sich aufhalten, wider. Diese scheinen die Protagonisten förmlich anzustarren.
Ozu betrachtet Raum als autonom. Er existiert, bevor und nachdem Menschen sich in ihm aufhalten. In Ochazuke no aji lassen Ehemann und Ehefrau während ihrer Reisen das Haus leer stehen. Dessen Räume führen ihre eigene stille Konversation weiter und warten keineswegs ungeduldig auf die Rückkehr ihrer Besitzer. Gleichzeitig ist in Ozus Filmen ein großer Sinn für Fülle, die ihren Höhepunkt in den späten, in Farbe gedrehten Arbeiten erreicht, angefangen bei Higanbana (Equinox Flower, 1958). Alle Ozu-Filme – speziell die Farbfilme – gewinnen unglaublich dazu, wenn sie in guten 35mm-Kopien gezeigt werden. Was deutlich wird, wenn man beispielsweise eine gute Kopie von Higanbana oder Akibiyori (Late Autumn, 1960) auf großer Leinwand sieht, ist Ozus Fähigkeit, einem Bild unermessliche Weite zu verleihen. Er bewerkstelligt dies – unabhängig von der Größe der Einstellung –, indem er das jeweilige Bild mit Gegenständen anreichert, die uns gelassen von ihrer Position aus anschauen (ein roter Teekessel, Bierflaschen, schöne Reisweinflaschen) und durch einen architektonischen Einsatz der Ausstattung, um Tiefe zu erzeugen. Die reinen, strengen Pastellfarben und das funkelnde Schwarz von Ozus Farbfilmen generieren sowohl unglaubliche Wärme als auch eine schlichte Atmosphäre. Ozu bietet nie nur reine Dekoration. Er arrangiert Menschen und Gegenstände im Raum, um eine ruhige, eigenartige und schlichte Harmonie zu erreichen.
Ozus letzter Film, Samma no aji (An Autumn Afternoon, 1962), wiederholt das Szenario von Banshun: Abermals versucht ein Witwer, seine Tochter zu vermählen. Eine durchgehende Handlung fehlt völlig, der Film ist eine Ansammlung von Ereignissen. Wie wir allmählich herausfinden (als die emotionalen Verwicklungen, die sich zunächst in scheinbar harmlosen Situationen manifestieren, klar werden) besteht deren Zweck darin, am eigentlichen Punkt vorbeizugehen: Sie erlauben den Charakteren lediglich, zu vermeiden, sich mit dem Unabänderlichen zu konfrontieren. Was Ozu hier macht, ist beispiellos: Er zeigt das Gefüge alltäglichen Lebens, die grundlegenden Anschauungen und Werte der Gesellschaft, den Sinn für die Zeit, die verrinnt, – kurz gesagt, alles – mit einer Leichtigkeit, die leidenschaftslos anekdotenhaft und objektiv ist. Dadurch bringt Ozu den Zuschauer zur Erkenntnis über den katastrophalen Verlust und die Unmöglichkeit, einen objektiven Standpunkt einzunehmen, um subjektive Eindrücke und Emotionen wiederzugeben. Mit der kristallklaren Gegenüberstellung von Haltungen und seiner Freude an Widersprüchen ist der Film geradezu ein Musterbeispiel für das bemerkenswerte Schaffen Ozu Yasujirôs.